Aus: Steven Pinker, Gewalt: eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011, ISBN 978-3-10-061604-3. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Ein fremdes Land
Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.
L. P. Hartley
Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land ist, dann ist dieses Land erschreckend gewalttätig. Man vergisst nur allzu leicht, wie gefährlich das Leben früher war, wie Brutalität sich durch das ganze Gewebe des Alltagslebens zog. Die kulturelle Überlieferung macht die Vergangenheit friedlich und hinterlässt uns nur verblasste Erinnerungsstücke, deren blutige Entstehungsgeschichte verblichen ist. Wenn eine Frau ein Kreuz um den Hals trägt, denkt sie nur in den seltensten Fällen darüber nach, dass dieses Folterinstrument in der Antike ein allgemein übliches Mittel der Bestrafung war, und wer von einem Prügelknaben spricht, denkt nicht an die alte Sitte, ein unschuldiges Kind anstelle eines Prinzen, der sich falsch verhalten hat, zu schlagen. Wir sind von Anzeichen für die boshafte Lebensweise unserer Vorfahren umgeben, aber sie sind uns kaum bewusst. Genau wie das Reisen, das den geistigen Horizont erweitert, so kann auch eine wortgetreue Betrachtung unseres kulturellen Erbes in uns die Erkenntnis wecken, dass in der Vergangenheit völlig andere Regeln galten.
In einem Jahrhundert, das mit dem 11. September, dem Irak und Darfur begonnen hat, mag die Behauptung, wir lebten in einer ungewöhnlich friedlichen Zeit, wie ein Mittelding zwischen Halluzination und Obszönität erscheinen. Aus Gesprächen und Umfragen weiß ich, dass die meisten Menschen sich weigern, es zu glauben. In den nachfolgenden Kapiteln werde ich meine Aussage mit Datumsangaben und Zahlen begründen. Aber zuerst möchte ich Sie ein wenig weichklopfen, indem ich Sie an einige einschlägige Tatsachen aus der Vergangenheit erinnere, über die wir schon immer Bescheid gewusst haben. Damit möchte ich nicht nur Überzeugungsarbeit leisten. Wissenschaftler unterwerfen ihre Schlussfolgerungen häufig einer Plausibilitätsprüfung. Mit einer Stichprobe von Phänomenen aus der Wirklichkeit vergewissern sie sich, dass sie nicht irgendeinen Fehler in ihren Methoden übersehen haben und vorschnell zu einer Aussage gelangt sind. Die kurzen Szenen in diesem Kapitel sind eine Art Plausibilitätsprüfung für die Daten, die ich später anführen werde.
Wir machen jetzt eine kurze Rundreise durch jenes fremde Land namens Vergangenheit; sie führt uns vom Jahr 8000 v. u. Z. bis in die 1970er Jahre. Es ist keine große Bildungsreise durch die Kriege und Gräueltaten, deren wir ohnehin wegen ihrer Gewalttätigkeit gedenken, sondern eine Reihe kleinerer Blicke hinter altvertraute Orientierungspunkte, die uns daran erinnern sollen, welche Heimtücke sich dahinter verbirgt. Natürlich ist die Vergangenheit kein einzelnes Land , sondern sie umfasst eine Vielzahl von Kulturen und Gebräuchen. Was sie aber alle gemeinsam haben, ist der Schrecken früherer Zeiten: ein Hintergrund aus Gewalt, die man erduldete und sich oft auf eine Weise zu eigen machte, über die ein empfindlicher Bewohner der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nur staunen kann.
Die Vorgeschichte der Menschen
Im Jahr 1991 stolperten zwei Wanderer in den Tiroler Alpen über eine Leiche, die aus einem schmelzenden Gletscher ragte. In dem Glauben, es handele sich um das Opfer eines Skiunfalls, befreiten Rettungskräfte den Körper mit Presslufthämmern aus dem Eis, wobei sie den Oberschenkelknochen und seinen Rucksack beschädigten. Erst als ein Archäologe eine Kupferaxt aus der Jungsteinzeit entdeckte, wurde klar, dass dieser Mann 5000 Jahre alt war.
Ötzi oder der "Mann aus dem Eis", wie er heute genannt wird, wurde zu einer Berühmtheit. Er zierte die Titelseite des Magazins Time und war der Gegenstand zahlreicher Bücher, Dokumentarfilme und Zeitschriftenartikel. Seit Mel Brooks' 2000 Year Old Man ("ich habe über 42.000 Kinder, und keines kommt mich besuchen") konnte uns kein tausendjähriger Mensch mehr so viel über die Vergangenheit erzählen. Ötzi lebte in jener entscheidenden Übergangszeit unserer Vorgeschichte, als die Landwirtschaft an die Stelle des Jagens und Sammelns trat und als man Werkzeuge erstmals in nicht nur aus Stein, sondern auch aus Metall herstellte. Neben seiner Axt und dem Rucksack trug er einen Köcher mit gefiederten Pfeilen, einen Dolch mit Holzgriff und ein in Rinde gewickeltes glühendes Stück Holz, das zu einem raffinierten Besteck zum Feuermachen gehörte. Seine Kleidung bestand aus einer Bärenfellmütze mit ledernen Kinnriemen, Beinkleidern aus zusammengenähten Tierhäuten und wasserdichten Schneeschuhen aus Leder und Fasern, die mit Gras isoliert waren. An seinen arthritischen Gelenken hatte er Tattoos, vermutlich ein Anzeichen für Akupunktur, außerdem hatte er Pilze mit medizinischen Eigenschaften bei sich.
Zehn Jahre nachdem man den Mann aus dem Eis entdeckt hatte, machte eine Arbeitsgruppe von Radiologen eine beunruhigende Entdeckung: In Ötzis Schulter steckte eine Pfeilspitze. Anders als die Wissenschaftler ursprünglich angenommen hatten, war er nicht in eine Gletscherspalte gefallen und erfroren, sondern er war in einen Hinterhalt geraten. Als man den Körper kriminaltechnisch untersuchte, rückte schemenhaft ein Verbrechen ins Blickfeld. Ötzi hatte nicht verheilte Schnitte an den Händen sowie Wunden an Kopf und Brust. Die DNA-Analysen zeigten Blutspuren von zwei anderen Menschen an einer seiner Pfeilspitzen, Blut von einem Dritten an dem Dolch und das Blut eines Vierten an seinem Mantel. Einer Rekonstruktion zufolge gehörte Ötzi zu einer Gruppe, die Überfälle beging und mit einem Nachbarstamm aneinandergeraten war. Er tötete einen Mann mit einem Pfeil, holte sich die Waffe zurück, tötete einen zweiten, holte sich wiederum die Waffe und trug einen verwundeten Kameraden auf dem Rücken davon, bevor er einen erneuten Angriff abwehren musste und selbst einem Pfeil zum Opfer fiel.
Ötzi ist nicht der einzige jahrtausendealte Mensch, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts berühmt wurde. Im Jahr 1996 bemerkten die Zuschauer eines Motorbootrennens in Kennewick im US-Bundesstaat Washington einige Knochen, die aus einem Ufer des Columbia River ragten. Wenig später bargen Archäologen das Skelett eines Mannes, der vor 9400 Jahren gelebt hatte. Sofort rückte der Kennewick-Mann in den Mittelpunkt öffentlichkeitswirksamer juristischer und wissenschaftlicher Konflikte. Mehrere Stämme der amerikanischen Ureinwohner stritten sich um das Sorgerecht für das Skelett und um das Recht, es entsprechend ihren Traditionen zu bestatten. Ein Bundesgericht wies die Ansprüche jedoch zurück und stellte fest, keine Kultur der Menschen habe ich jemals über neun Jahrtausende hinweg ununterbrochen existiert. Als man die wissenschaftlichen Untersuchungen schließlich wieder aufnahm, stellten die Anthropologen zu ihrer Verblüffung fest, dass der Kennewick-Mann sich anatomisch stark von den heutigen amerikanischen Ureinwohnern unterschied. Ein Bericht vertritt die Ansicht, er habe europäische Gesichtszüge gehabt; nach einem anderen passte er zu den Ainu, den Ureinwohnern Japans. Beide Theorien würden bedeuten, dass Amerika durch mehrere unabhängige Einwanderungswellen besiedelt wurde, aber das widerspricht den Befunden der DNA-Analysen, wonach die amerikanischen Ureinwohner die Nachkommen einer einzigen, aus Sibirien eingewanderten Gruppe sind.
Es gibt also eine Fülle von Gründen, warum der Kennewick-Mann bei den wissenschaftlich Interessierten zum Objekt der Faszination wurde. Ich möchte noch einen weiteren nennen. Im Beckenknochen des Kennewick-Mannes steckt ein Steingeschoss. Der Knochen war zwar teilweise verheilt, was darauf hindeutet, dass er nicht an der Wunde starb, der kriminaltechnische Beleg ist aber eindeutig: Auf den Kennewick-Mann war geschlossen worden.
Das sind nur zwei Beispiele für berühmte prähistorische Überreste, die uns grausige Nachrichten über das Ende ihrer Eigentümer überbringen. Viele Besucher des Britischen Museums waren vom Lindow-Mann gefesselt, einer nahezu vollständig erhaltenen, 2000 Jahre alten Leiche, die man 1984 in einem englischen Torfmoor entdeckt hatte. Wie viele seiner Kinder ihn besuchten, wissen wir nicht, aber wie er starb, ist bekannt. Sein Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmer, und der Hals war durch eine verdrehte Schnur gebrochen; zu allem Überfluss hatte man ihm dann auch noch die Kehle durchgeschnitten. Möglicherweise war der Lindow-Mann ein Druide, den man auf dreierlei Weise rituell geopfert hatte, um drei Götter zufriedenzustellen. Auch Spuren an vielen anderen männlichen und weiblichen Moorleichen aus Nordeuropa deuten darauf hin, dass man diese Menschen erdrosselt, erschlagen, erstochen oder gefoltert hatte.
Während der Recherchen zu diesem Buch stieß ich in einem einzigen Monat auf zwei neue Geschichten über bemerkenswert gut erhaltene menschliche Überreste. Der eine ist ein 2000 Jahre alter Schädel, der in einer Schlammgrube in Nordengland ausgegraben wurde. Der Archäologe, der den Schädel reinigte, spürte eine Bewegung, blickte durch die Öffnung an der Schädelunterseite und sah im Inneren eine gelbliche Substanz: Sogar das Gehirn war erhalten geblieben. Auch hier war der ungewöhnlich gute Erhaltungszustand nicht die einzige bemerkenswerte Eigenschaft des Fundes. Der Schädel war absichtlich vom übrigen Körper abgetrennt worden, was nach Ansicht des Archäologen darauf schließen ließ, dass es sich um ein Menschenopfer handelte. Die andere Entdeckung war ein 4600 Jahre altes Grab in Deutschland mit den Überresten eines Mannes, einer Frau und zweier Jungen. Die DNA-Analyse zeigte, dass sie alle zu einer einzigen Kleinfamilie gehörten – der ältesten, die man in der Wissenschaft kennt. Alle vier waren zur gleichen Zeit bestattet worden, nach Aussagen der Archäologen ein Zeichen, dass sie bei einem Überfall ums Leben gekommen waren.
Woran liegt es, dass die prähistorischen Menschen uns offenbar keine interessante Leiche hinterlassen konnten, ohne auf gewalttätige Methoden zurückzugreifen? In manchen Fällen findet sich vielleicht eine harmlose Erklärung in der Taphonomie, das heißt in den Vorgängen, durch die Leichen erhalten bleiben. Vielleicht wurden zu Beginn des ersten Jahrtausends nur die Leichen von Menschen, die man rituell geopfert hatte, in Mooren versenkt, wo sie für die Nachwelt konserviert wurden. Bei den anderen Funden besteht aber kein Anlass zu der Vermutung, sie seien nur deshalb erhalten geblieben, weil sie ermordet wurden. Später werden wir noch kriminaltechnische Untersuchungen kennen lernen, mit denen man anhand der Art, wie ein Körper auf uns überkommen ist, genau analysieren kann, wie er den Tod fand. Vorerst vermitteln prähistorische Überreste eindeutig den Eindruck, dass die Vergangenheit ein Land war, in dem für die Menschen eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, körperlich zu Schaden zu kommen.